Lernen von Emscher und Lippe

Delegation aus Sachsen besucht erfolgreiche Renaturierungs- und Hochwasserschutzprojekte

Dortmund. Eine 12-köpfige Delegation von Umweltministerium, Landesumweltamt und Landestalsperrenverwaltung Sachsen sowie der Stadt Leipzig hat in der vergangenen Woche die Emscher- und Lipperegion besucht. Zusammen mit Expert*innen von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) unternahmen sie eine mehrtägige Exkursion zu Renaturierungs- und Hochwasserschutz-Projekten der beiden Wasserwirtschaftsverbände. Ziel der Delegation: Von den erfolgreichen Projekten zu lernen und den wertvollen Erfahrungsschatz von EGLV für anstehende Projekte in Sachsen zu nutzen.

„It can be done“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz beim großen Festakt der Emschergenossenschaft zum Erreichen der Abwasserfreiheit im September. Was er meinte: Dass generationsüberspannende Groß-Projekte wie der Emscher-Umbau im Kosten- und Zeitenrahmen bleiben, ist keine Selbstverständlichkeit. Der Satz könnte aber auch die Überschrift für den gesamten Emscher-Umbau sein. Über ein Jahrhundert lang wurde die Emscher – und auch die Lippe – in ein pfeilgerades Bett gezwängt, mit Schadstoffen belastet und ihrer natürlichen Hochwasser-Überschwemmungsräume beraubt. Mit der Abwasserfreiheit und der noch andauernden Renaturierung der beiden Flüsse und ihrer Nebenläufe wurde das Rad der Zeit nicht nur ein Stück weit zurückgedreht. Gleichzeitig machen Emschergenossenschaft und Lippeverband die Gewässer fit für die Zukunft und wappnen sie für die Folgen des Klimawandels.

„Die Emscher zeigt uns, wie ein ökologisch zerstörtes Gewässer wieder zu einem naturnahen Fluss werden kann. Das ist beispielhaft. Die Renaturierung von Gewässern, Flusslandschaften und Auen ist eine umweltpolitische Kernaufgabe. Denn naturnahe Gewässerlandschaften kommen weit besser mit den Folgen der Klimakrise zurecht, also mit dem Wechsel von Wassermangel und Extremniederschlägen. Und naturnahe Gewässerlandschaften sind Hotspots der Artenvielfalt, ihre Wiederherstellung ist zwingend notwendig, um den Verlust der Artenvielfalt zu stoppen. Durch die EU-Wasserrahmenrichtlinie sind wir zudem rechtlich verpflichtet zu handeln. Die meisten unserer Flüsse in Deutschland und auch in Sachsen sind noch nicht in einem guten ökologischen Zustand. Wir gehen die Renaturierung von Flusslandschaften in Sachsen seit 2019 entschlossen an. Mit der Revitalisierung des Leipziger Auwalds haben wir uns ein dringend notwendiges Generationenprojekt vorgenommen – die Rettung einer europaweit einzigartigen Auenlandschaft mitten in einer wachsenden Metropolregion. An der Emscher müssen wie im Leipziger Auwald viele verschiedene Nutzungen unter einen Hut gebracht werden. Hier können wir voneinander lernen“, sagt Wolfram Günther, Sächsischer Staatsminister für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft anlässlich des Austausches.

In vielfacher Hinsicht steht Sachsen heute vor denselben Herausforderungen wie an Emscher und Lippe. In den Noch-Braunkohlerevieren Lausitzer und Mitteldeutsches Revier sind begradigte Gewässer, verlorengegangene Auen und bergbaubedingt gestörte Wasserhaushalte zu sanieren und zu renaturieren, und das noch über einen Zeitraum vieler Jahrzehnte. Dass diese Herausforderungen bewältigt werden können, davon überzeugten sich die Mitglieder der sächsischen Delegation beim Besuch der Lippe-Mündungsaue in Wesel, der neuen Emscher-Mündung in Dinslaken, des Hochwasserrückhaltebecken in Dortmund-Ellinghausen und des Dortmunder Phoenix-Sees.

Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband, macht deutlich, dass die Renaturierung von einstigen Köttelbecken wie der Emscher mehr ist als die Lösung eines Geruchsproblems. „Eine sich weltweit verschärfende Umweltkrise wird zunehmend bedrohlich für Wohlstand und Frieden unserer Gesellschaft – auch in Europa. Wir als Wasserwirtschaft sind daher gefragt, unsere Gewässer gegen den Klimawandel mit seinen Folgen wie Hochwasser und Dürre fit zu machen und auch die Menschen unserer Region mitzunehmen und zu beteiligen“, so Paetzel. Im Fokus des Besuches der sächsischen Delegation standen daher multifunktionale EGLV-Projekte, die sich mehreren wichtigen Zielen widmen: Förderung der Biodiversität, Gewässerschutz, Hochwasser- und Dürremanagement, Stadtentwicklung und Naherholung.

Phoenix See
Wie kaum ein anderes Projekt der Emschergenossenschaft steht der Phoenix See für die vielfältigen Impulse und positive Strahlkraft, die vom wasserwirtschaftlichen Projekt Emscher-Umbau ausgehen. Aus 24 Hektar Industriebrachfläche entstand ein See, auf dem Freizeitsportler*innen segeln, rudern und paddeln können. Mehr als drei Kilometer neue Wege rund um den See laden zur Beobachtung der Natur und zum Joggen, Radfahren und Spazierengehen ein. Die urbanen Quartiere am See integrieren Wohnen, Arbeiten und Freizeit und gehören heute mit zu den begehrtesten Wohnquartieren in Dortmund. Kurz um: Mitten im Dortmunder Stadtteil Hörde entstand eine riesige Naherholungsanlage. Was viele dabei vergessen – der See ist gleichzeitig ein Hochwasserrückhaltebecken, das bei Starkregenereignissen bis zu 235.000 Kubikmeter Wasser speichern kann. Auch Flora und Fauna profitieren von dem Projekt und von der abwasserfreien Emscher am nördlichen des Sees und dem ökologisch entwickelten Hörder Bach am südlichen Ufer. Fast 400 unterschiedliche Farn- und Blütenpflanzen sowie 100 Tierarten – 12 davon im Bestand gefährdet – sind heute in dem Gebiet ansässig.

Hochwasserrückhaltebecken (HRB) Dortmund-Ellinghausen
Sie sind in Deutschland so selten geworden, dass sie auf der Liste der bedrohten Tierarten stehen: Uferschwalben. Am Hochwasserrückhaltebecken Dortmund-Ellinghausen der Emschergenossenschaft sind sie jedoch seit Jahren regelmäßige – und gerngesehene – Gäste. Jedes Jahr ab April kehren sie nach Ellinghausen zurück, um zu nisten und ihre Brut aufzuziehen. Erstmals dort festgestellt wurden sie 2017. Damals befand sich das HRB noch im Bau und bot so ideale Voraussetzungen für die Brut, dass sich die Uferschwalben selbst vom Lärm der großen Baugeräte nicht abschrecken ließen. Sie benötigen für ihre Brut steile Uferwände, in die sie lange Niströhren graben können. Diese waren für die kleinen Vögel in der Vergangenheit zunehmend schwerer zu finden. Künstlich erschaffene Lebensräume wie beispielsweise frische Abbruchkanten haben sich für die Schwalbenart zu wertvollen Ersatzlebensräumen entwickelt – so wie am Hochwasserrückhaltebecken Dortmund-Ellinghausen. Um die Bestände der Uferschwalbe zu schützen, hat sich die Emschergenossenschaft den Erhalt des neuen Habitats zur Aufgabe gemacht. So werden zum Beispiel die Steilufer außerhalb der Brutzeiten freigehalten und nachprofiliert, sodass sie sich langfristig als Brutplätze für die Uferschwalbe eignen. Das HRB Dortmund-Ellinghausen zeigt, welch wichtiges Potenzial wasserwirtschaftliche Anlagen für den Naturschutz bieten können.

Merlin – EU-Projekt zur Wiederherstellung von Süßwasser-Ökosystemen
Der Kontakt zwischen EGLV und der sächsischen Delegation entstand durch das EU-Forschungsprojekt Merlin. Der Emscher-Umbau ist eines von 17 Merlin-Forschungsprojekten in ganz Europa, die Vorbilder sein sollen für Wiederherstellung von Süßwasser-Ökosystemen in den Mitgliedsstaaten. Das von der EU im Rahmen des „Grünen Deals“ mit 21 Millionen Euro geförderte Projekt läuft seit 2021 und endet im September 2025. Beteiligt sind 45 Partner aus ganz Europa, darunter Universitäten, Forschungsinstitute, Naturschutzorganisationen, Wasserverbände sowie Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Kommunen. Die Hälfte der Projektmittel geht in konkrete Renaturierungsvorhaben der 17 Fallstudien. Ziel von MERLIN ist es, die Funktionen von Süßwasser-Ökosystemen wiederherzustellen, um beispielweise den natürlichen Hochwasserschutz zu verbessern, die Artenvielfalt zu erhöhen, Kohlendioxid zu speichern und Naherholungsräume zu schaffen. An der Emscher werden mit den Projektmitteln vor allem Blühwiesen auf den Emscher-Deichen angelegt sowie Umweltbildungs- und partizipative Programme an den Gewässern unterstützt und Synergien zwischen Wasserwirtschaft und Naturschutz geschaffen.

Emschergenossenschaft und Lippeverband
Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) sind öffentlich-rechtliche Wasserwirtschaftsunternehmen, die als Leitidee des eigenen Handelns das Genossenschaftsprinzip leben. Die Aufgaben der 1899 gegründeten Emschergenossenschaft sind unter anderem die Unterhaltung der Emscher, die Abwasserentsorgung und -reinigung sowie der Hochwasserschutz. Der 1926 gegründete Lippeverband bewirtschaftet das Flusseinzugsgebiet der Lippe im nördlichen Ruhrgebiet und baute unter anderem den Lippe-Zufluss Seseke naturnah um. Gemeinsam haben Emschergenossenschaft und Lippeverband rund 1.700 Beschäftigte und sind Deutschlands größter Abwasserentsorger und Betreiber von Kläranlagen (rund 782 Kilometer Wasserläufe, rund 1533 Kilometer Abwasserkanäle, 546 Pumpwerke und 69 Kläranlagen). www.eglv.de